Standpunkt

Stand­punkt: Fahr­schein­lo­ser ÖPNV

Zusammenfassung

Die Erpro­bung des fahr­schein­lo­sen ÖPNV ist schon seit Jah­ren The­ma in vie­len Kom­mu­nen, sowohl in Deutsch­land als auch in ganz Euro­pa. Es gibt inzwi­schen meh­re­re Bei­spie­le für erfolg­rei­che Ein­füh­run­gen und Tests mit einer alter­na­ti­ven Finanzierung.

Die Erpro­bung des fahr­schein­lo­sen ÖPNV ist schon seit Jah­ren The­ma in vie­len Kom­mu­nen, sowohl in Deutsch­land als auch in ganz Euro­pa. Es gibt inzwi­schen meh­re­re Bei­spie­le für erfolg­rei­che Ein­füh­run­gen und Tests mit einer alter­na­ti­ven Finanzierung.

Seit dem 01. Janu­ar 2020 kann in der Augs­bur­ger Innen­stadt das ÖPNV Ange­bot der Stadt­wer­ke Augs­burg fahr­schein­los genutzt wer­den. Die Kos­ten hier­für wer­den mit ca. 500.000 Euro p.A. beti­telt: „Mit unse­ren Bio-Erd­gas-betrie­be­nen Bus­sen und den strom­be­trie­be­nen Stra­ßen­bah­nen leis­ten wir bereits einen wesent­li­chen Bei­trag dazu, die Stick­oxid-Wer­te in der Innen­stadt zu sen­ken. Jetzt möch­ten wir noch einen Schritt wei­ter gehen“, sagt Dr. Wal­ter Casa­z­za, Geschäfts­füh­rer der Stadt­wer­ke Augsburg.

Betrach­ten wir die Situa­ti­on in Del­men­horst, so ist es so, dass die Del­bus einen jähr­li­chen Finanz­be­darf von ca. 4,5 Mio. Euro hat. Von die­sem Bedarf wird zur Zeit unge­fähr die Hälf­te bis knapp zwei Drit­tel durch öffent­li­che Mit­tel gedeckt, d.h. in der Kon­se­quenz, dass ja sowie­so heu­te schon über die Hälf­te des Fahr­prei­ses soli­da­risch durch die Ver­wen­dung von Steu­er­mit­teln bezu­schusst wird. Um den Ver­lust durch den Ver­zicht auf den Ver­kauf von Fahr­schei­nen und Abon­ne­ments aus­zu­glei­chen, könn­te im Rah­men einer Gebüh­ren­sat­zung eine monat­li­che Umla­ge für die der­zeit ca. 36.000 Haus­hal­te in Höhe von ca. 5 Euro monat­lich oder 60 Euro p.A. unse­res Erach­tens nach ein flä­chen­de­cken­der, fahr­schein­los zu benut­zen­der ÖPNV in Del­men­horst ein­ge­rich­tet wer­den. Die Aus­ga­be von Chip­kar­ten an alle Haus­hal­te könn­te zur Legi­ti­mie­rung des Beför­de­rungs­an­spruchs die­nen, orts­frem­de Besu­cher könn­ten ggfs. wei­ter­hin Tickets erwer­ben müssen.

Die Erhe­bung einer Abga­be für die fahr­schein­lo­se Nut­zung des ÖPNV ergibt sich aus §5 Nie­der­säch­si­sches Kom­mu­nal­ab­ga­ben­ge­setz (NKAG), die Stadt Del­men­horst müss­te eine ent­spre­chen­de Sat­zung erlassen.

Ein Bei­spiel für den Erfolg einer fahr­schein­lo­sen Nut­zung des ÖPNV kann die Frei­ga­be der Pari­ser Metro im März 2014 und 2015 sein. Nach­dem die Fein­staub-Grenz­wer­te im Stadt­ge­biet über­schrit­ten wur­den, wur­de aus Grün­den der Luft­rein­hal­tung die unent­gelt­li­che Nut­zung der Metro erlaubt. Durch die­se Maß­nah­me konn­te die Fein­staub-Kon­zen­tra­ti­on bin­nen einer Woche um 6 % und die Stick­stoff­di­oxid Kon­zen­tra­ti­on um 10 % gesenkt wer­den. Fer­ner sank das gesam­te Ver­kehrs­auf­kom­men um 18 %, im his­to­ri­schen Stadt­zen­trum ging der Ver­kehr um 13 % zurück.

Tausch­ak­tio­nen, bei denen bei­spiels­wei­se der Auto­schlüs­sel oder der Füh­rer­schein gegen eine Fahrt­be­rech­ti­gung für den Nah­ver­kehr ein­ge­tauscht wird, sind eine wei­te­re Form der fahr­schein­lo­sen Nah­ver­kehrs­nut­zung. Ver­gleich­ba­re Aktio­nen wur­den bereits in vie­len Städ­ten durch­ge­führt, bei denen der ÖPNV stets ver­stärkt genutzt wur­de. Medi­al prä­sent war vor allem die vier­tä­gi­ge Mobi­li­täts­ak­ti­on in Leip­zig, wo der Kfz-Schein als Fahrt­be­rech­ti­gung für Bus­se und Bah­nen inner­halb des Stadt­ge­bie­tes dien­te. Die­se Ergeb­nis­se sind aus­sa­ge­kräf­ti­ger als gewöhn­li­che Tausch­ak­tio­nen, da ange­nom­men wer­den kann, dass sich die Per­so­nen grund­sätz­lich zwi­schen Pkw und dem Nah­ver­kehr ent­schei­den konn­ten und dass eine Gleich­wer­tig­keit des Zugangs zu bei­den Ver­kehrs­mit­teln bestand. Die Stich­pro­ben erga­ben, dass 19 % der Fahr­gäs­te in die­sen Tagen mit dem Kfz-Schein unter­wegs waren. 

Bei einer Unter­su­chung in Ros­tock wur­den, auf­bau­end auf eine zuvor statt­fin­den­de quan­ti­ta­ti­ve Befra­gung, Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer für ein Expe­ri­ment aus­ge­wählt, in des­sen Rah­men kos­ten­lo­se Schnup­per­ti­ckets an die Pro­ban­den ver­teilt wur­den, wel­che bestimm­te Vor­aus­set­zun­gen erfüll­ten (im Haus­halt muss­te ein Pkw vor­han­den sein und von der Per­son genutzt wer­den). Die aus­ge­wähl­ten 50 Ver­suchs­teil­neh­mer erhiel­ten eine kos­ten­lo­se Monats­kar­te. Im Ergeb­nis stieg die Nut­zungs­in­ten­si­tät des ÖPNV von 22 % auf 74 %. Der Wege­zweck ent­fiel haupt­säch­lich auf Wege in die Innen­stadt, zum Arbeits­platz und auf Frei­zeit­we­ge. In den im Anschluss durch­ge­führ­ten Inter­views gaben die Pro­ban­den an, dass sie die Expe­ri­men­tal­si­tua­ti­on als sol­che wahr­ge­nom­men haben und daher bewusst Fahr­ten gene­rier­ten, sodass das o. g. Ergeb­nis zu rela­ti­vie­ren ist. Den­noch möch­ten 42 % der Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer den ÖPNV öfter nutzen. 

Die Erkennt­nis aus die­sen Bei­spie­len lässt ver­mu­ten, dass ein Nah­ver­kehrs­an­ge­bot, wel­ches ohne tarif­lich-men­ta­le Bar­rie­ren ange­bo­ten wird, zu einer Ände­rung des Ver­kehrs­mit­tel­wahl­ver­hal­tens zu Guns­ten des ÖPNV führt. [Quel­le]

Ein wei­te­res Bei­spiel für einen Null­ta­rif im Nah­ver­kehr befin­det sich in der bel­gi­schen 70.000 Ein­woh­ner-Gemein­de Has­selt, die von der Grö­ße her mit Del­men­horst ver­gleich­bar ist, in der zwi­schen Juli 1997 und Mai 2013 die Nut­zung aller mit „H“ gekenn­zeich­ne­ten Bus­se für alle (auch für Tou­ris­tin­nen und Tou­ris­ten) kos­ten­frei war. Par­al­lel dazu wur­de die Innen­stadt für Pkw gesperrt, die weni­gen ver­blie­be­nen Park­plät­ze mit hohen Park­ge­büh­ren belegt und eine mehr­spu­ri­ge Stra­ße zu einem fuß­gän­ger- fahr­rad­freund­li­chen Grü­nen Bou­le­vard zurück­ge­baut; eine geschick­te Anord­nung von Push- und Pull Maß­nah­men, in deren Fol­ge  das ÖPNV-Fahr­gast­auf­kom­men zwi­schen 1997 (0,36 Mio.), 2000 (3,2 Mio.)  und 2007 (4,6 Mio.) um das Drei­zehn­fa­che anstieg, und das Pkw-Ver­kehrs­auf­kom­men in der Innen­stadt zurück­ging, sowie die Anzahl der Stadt­be­su­cher um 30 % stieg.

Befürch­tet wer­den häu­fig Van­da­lis­mus­schä­den, die in Fol­ge einer gerin­ge­ren Wert­schät­zung des kos­ten­lo­sen Nah­ver­kehrs auf­tre­ten („Was nichts kos­tet ist nichts wert“; Albert Ein­stein 1927). Doch weder in Has­selt noch in Temp­lin wur­den mehr Beschä­di­gun­gen fest­ge­stellt. Auch haben sich die Befürch­tun­gen nicht bewahr­hei­tet, wonach ein kos­ten­lo­ser Nah­ver­kehr Jugend­grup­pen oder Obdach­lo­se zum sinn­frei­en Her­um­fah­ren ver­lei­ten könnte.

Und es gibt durch­aus ja bekann­te und bewähr­te Ange­bo­te für die soli­da­risch finan­zier­te Nut­zung des ÖPNV:

Der Pro­to­typ und gleich­zei­tig erfolg­reichs­tes soli­da­risch finan­zier­tes Fahrschein­mo­dell ist das Semes­ter­ti­cket, wel­ches alle ein­ge­schrie­be­nen Stu­die­ren­den einer Hoch­schu­le erhal­ten. Semes­ter­ti­ckets wer­den unab­hän­gig von in Ver­bün­den gel­ten­den Tari­fen kal­ku­liert. Wegen der gro­ßen Abnah­me­men­ge kön­nen ent­spre­chend hohe Rabat­te ein­ge­räumt wer­den, die zum Teil durch die Rege­lun­gen in § 45a PBefG aus­ge­gli­chen wer­den. Für die Ver­kehrs­ver­bün­de bzw. –unter­neh­men sind die aus Semes­ter­ti­ckets gene­rier­ten Erlö­se eine wich­ti­ge und nicht unbe­deu­ten­de Finanzierungssäule. 

Mit den so genann­ten Kom­bi­ti­ckets haben die die Besu­cher der Heim­spie­le von Wer­der Bre­men die Mög­lich­keit, ohne wei­te­re Kos­ten den öffent­li­chen Nah­ver­kehr für die An- und Abrei­se zu nut­zen. Der Gel­tungs­be­reich die­ser Tickets gilt für den gesam­ten Ver­kehrs­ver­bund. Finan­ziert wird dies durch einen Bei­trag, der auf den Preis der  Ein­tritts­kar­te, auf­ge­schla­gen wird. Auf die­se Wei­se zahlt jeder Besu­cher einen Bei­trag, ohne dass die­ser die Mög­lich­keit der ÖPNV-Nut­zung in Anspruch neh­men muss.

 

 

 

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